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AutorenbildHannah

Mai

(Beitrag von 2020)


Wenn man jemanden verliert, wenn jemand plötzlich verschwindet, sich in Luft auflöst, dann ist das schwer zu begreifen. Von der einen auf die andere Sekunde verpufft plötzlich das Leben einer Person. Seit dem Tod meiner Schwester habe ich immer wieder von Schicksalsschlägen gehört und am Rande mitbekommen, wenn jemand gegangen ist. Trotzdem schockiert es mich immer wieder, selbst wenn ich die Person persönlich gar nicht kannte. Ich muss an den Dominoeffekt denken, den so ein Schicksalsschlag in Gang setzt, welche Bürden…

und ich kann nur hoffen, dass die Menschen, die davon betroffen sind die Stärke aufbringen und Unterstützung bekommen können, die sie dafür definitiv brauchen werden. Immer wieder frage ich mich, ob es diesen Menschen genauso gehen wird, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist. Ich kann rückblickend nämlich sehr wohl sagen, dass das die härteste Zeit meines Lebens war, sie hat alles von mir gefordert. Das hat nur niemand gemerkt, denn der Fehler, den ich gemacht habe war nicht darüber zu reden, mit niemandem. Das war fatal und es war wirklich, wirklich schlimm. Ich habe oft überlegt, ob ich darüber schreiben soll oder nicht. Es macht mich verletzlich und es erlaubt den Menschen über mich zu urteilen, über meine Schwächen und Fehler, meine Ängste und mein Handeln. Es öffnet Schubladen. Aber jedes Mal, wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der ich langsam aber sicher untergegangen bin, wie unendlich viel Kraft es mich gekostet hat mich wieder aufzurichten, wie elend alleine ich mich gefühlt habe, dann weiß ich wie wichtig es ist darüber zu sprechen. Und ganz ehrlich, es tut auch einfach gut es loszuwerden.

Ich hatte eigentlich immer verfluchte Angst vorm Sterben. Ich kam nie mit dem Gedanken klar, dass ich irgendwann einfach nicht mehr existieren werde. Seit dem Tod meiner Schwester ist das anders. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern wie gleichgültig mir plötzlich alles war in den Tagen nach der Beerdigung. Mir war es scheißegal, wenn ich jetzt sterben würde. In meinem ganzen Leben hatte ich mich bis zu diesem Zeitpunkt noch niemals so gefühlt. Ich war plötzlich furchtlos, aber nicht auf eine positive Art und Weise, sondern der Gleichgültigkeit wegen. Das ganze Leben ist mir plötzlich egal gewesen.

Die ersten Monate konnte ich noch gar nicht begreifen, dass meine Schwester wirklich nicht mehr da ist, es hat sich eher so angefühlt, als ob sie einfach etwas länger im Urlaub wäre.

Ich denke die größte Problematik bei dem Thema Trauer ist, dass man beim Verlust einer Person eine unausgesprochene Schonfrist von Außenstehenden bekommt, einen Freifahrtschein zum Unglücklichsein. Das Ding ist nur, dass für Außenstehende diese Schonfrist nach ein paar Wochen, maximal Monaten endet. Dann hat man wieder zu funktionieren, ab da hört das Verständnis auf. Aber an dem Punkt hat man noch nicht mal ansatzweise verarbeitet oder überhaupt realisiert was passiert ist - so war das zumindest bei mir. Man kann es den Menschen nicht übelnehmen, ich hatte es vorher auch nicht besser gewusst. Das war einer der Gründe, weshalb ich dieses Projekt überhaupt gestartet habe - damit man als Außenstehender die Menschen, die so etwas erlebt haben vielleicht einen Funken besser verstehen kann.

Meine Schonfrist war schon lange vorbei, als ich angefangen habe zu verstehen, was eigentlich los ist und sich der Verlust in mir manifestiert hat. Es waren bei mir bestimmte Momente, in denen es mir bewusstgeworden ist, es war ein schleichender Prozess. Die ersten Momente waren zum Beispiel, wenn mich jemand auf der Arbeit gefragt hat, wo ich die letzten Wochen gewesen sei und ich es aussprechen musste. Ich habe es realisiert, als ich das Staffelfinale von ‚How I met your mother‘ alleine zu Ende geschaut habe. Aber am allerschlimmsten war es, wenn mich jemand gefragt hat wie viele Geschwister ich habe. Ich habe es realisiert, wenn ich abends auf mein Handy gestarrt habe und sie gerne angerufen hätte, um ihr zu erzählen, dass wir zum zweiten, dritten und sogar zum vierten Mal Tanten geworden sind, um ihr zu erzählen, dass mein Tag eigentlich ganz gut war oder wenn er schlecht war, um ihr zu erzählen, dass ich umziehe, dass ich meinen Abschluss gemacht habe und studieren werde, wenn ich einfach gerne mit ihr reden würde, egal über was. Ich realisiere es immer wieder, wenn ich mir alleine die Fingernägel lackiere, wenn ich während eines Filmes Rotz und Wasser heule und sie nicht mehr neben mir sitzt und stillschweigend mitheult. Ich realisiere es noch immer in so vielen Momenten. Und vieles ist nicht mehr so wie es vorher war, vieles hat sich verändert. Vieles, das weiß ich, kommt nicht wieder und ich habe angefangen das zu akzeptieren.

Einen Menschen zu verlieren ist so viel tiefgreifender und komplexer als man denkt. Es zieht so viele Fäden nach sich und so viele Entscheidungen fallen anders als sie es vorher getan hätten. Ich habe damals langsam angefangen zu realisieren, dass meine Schwester weg ist, dass sich Dinge auf unangenehme Weise verändert hatten. Und ich bin damit nicht zurechtgekommen. Je mehr ich versucht habe die Thematik zu verdrängen, desto schlimmer wurde es. Ich hatte es selbst nicht gemerkt, aber allmählich hat es angefangen mein Leben zu bestimmen. Und von Tag zu Tag, Woche zu Woche, hab ich mich ein Stückchen mehr darin verloren.

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