(Beitrag von 2020)
Im Voraus möchte ich gerne darauf hinweisen, dass die Beiträge, die ich zum Kalender veröffentliche Gefühle und Situationen beschreiben, die teilweise schon mehrere Jahre zurückliegen. Die meisten dieser Gefühle fühle ich heute nicht mehr. Würde ich es tun, hätte ich ich nicht den Mut aufgebracht sie niederzuschreiben, geschweige denn zu veröffentlichen. Trotzdem möchte ich sie im Nachhinein teilen, weil ich mittlerweile weiß, dass ich nicht alleine mit solchen Situationen war und dass man sich, wenn man denn drinsteckt, hemmungslos alleine fühlt - als wäre man der einzige Mensch auf der Welt, der so fühlt. Dem ist nicht so. Das merkt man aber erst, wenn andere ebenso darüber sprechen wie man selbst.
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Ich falle wie ein Stein bis auf den Grund. Ich wende mich von allem ab.
Damals lasse ich meinen Arbeitsvertrag auslaufen und bewerbe mich für ein Studium, in der Hoffnung, dass ich mich damit wieder besser fühle. Aber eigentlich halte ich es in meinem Beruf nur nicht mehr aus. Ich laufe davor weg.
Ich bin über den Sommer also zuhause und warte auf die Zusage für das Studium. In der Zeit breitet sich dieses miese Gefühl in mir weiter aus, es frisst sich in mir fest. Ich habe viel zu viel Zeit zum Nachdenken.
Oft gibt es da diese Momente, in denen mich die Menschen mit meiner Schwester vergleichen. Sie sagen mir, dass ich dieselben Hände habe wie sie, dass ich niese wie sie, dass ich gerade handle wie sie. Ich sehe nicht, dass das vielleicht etwas Schönes ist.
Ich niese schon immer so, ich habe schon immer diese Hände - meine eigenen. Ich werde mit einer Toten verglichen, mit jemandem der nicht mehr da ist - aber ich bin es schon. Deshalb möchte ich, dass mich die Menschen um mich herum auch sehen und nicht nur meine tote Schwester. Aber ich habe das Gefühl das tun sie nicht. Ich möchte sie gerne schütteln und ihnen sagen, dass ich auch noch da bin. Stattdessen fange ich an mich zu fühlen wie ein Geist. Als würde ich unsichtbar. Als würde ich noch immer im Schatten meiner toten Schwester leben.
Das fühlt sich falsch an, taktlos und deplatziert, aber ich fühle es trotzdem. Es macht mich wütend. In mir staut sich Wut an.
Ich fange an mich falsch zu fühlen. Ich kann die Dinge, die ich fühle nicht zuordnen. Doch ich ziehe es nicht in Erwägung darüber zu reden.
Wenn ich mit den wenigen Freunden, die ich noch habe ausgehe, dann schlage ich über die Strenge. Ich gehe über Grenzen und nehme die meisten Dinge viel zu persönlich.
Ich trinke an solchen Abenden den ein oder anderen Drink zu viel, um die Gefühle in mir zu betäuben, ich blamiere mich - mehr als nur einmal.
Die Menschen, die mich in dieser Zeit kennenlernen halten wahrscheinlich nicht sehr viel von mir, das ist verständlich. Ich ecke damals meistens an. Deshalb ziehe ich mich weiter zurück.
Manchmal würde ich mich gerne mitteilen. Aber immer, wenn ich das tue, wenn es zu den seltenen Momenten kommt, in denen ich die ganze Scheiße in mir nicht mehr zurückhalten kann, dann wenden sich die Menschen von mir ab. Sie sagen mir ich wäre kompliziert, ich wäre anstrengend, zu sensibel. Selbstverachtung tut sich in mir auf.
Ich versuche mich das ein oder andere Mal wieder aufzuraffen und gehe aus, nur um doch festzustellen, dass ich nirgends mehr hineinpasse. Diese Tage enden immer gleich, in Tränen und Trübsinn. Ich komme aus dieser Spirale nicht mehr heraus.
Wut und Schwermut verankern sich so tief in mir und niemand bemerkt das. Ich würde so gerne funktionieren, ich würde so gerne wieder glücklich sein, ich würde so gerne so vieles, was ich nicht kann. Ich sehe nur noch die Dinge, die ich nicht bin, die ich nicht sein kann. Fehlerhaft. Ich bin nur noch fehlerhaft. Ich finde keinen Halt mehr, bei niemandem, nicht bei Freunden, nicht bei meiner Familie, selbst in der Liebe nicht.
Damals gibt es viele schlimme Situationen und Momente.
Weihnachten zum Beispiel war für mich immer heilig. Aber mit der Zeit fange ich an Weihnachten zu hassen. Nicht, weil ich es nicht mag, sondern weil ich mich seit dem Tod meiner Schwester mit jedem Jahr ein wenig einsamer fühle an solchen Tagen.
Weihnachten 2016 verbringe ich das erste Mal ohne meine Familie. Jeder hat irgendwie was Anderes vor. Jeder um mich herum hat jetzt seine eigene Familie, eigene Pläne. Nur ich nicht, ich wünsche mir noch immer die Zeit zurück.
Ich fühle mich auch sonst nirgends erwünscht. Also bleibe ich zuhause. Zwei Freunde kommen zum Essen kurz vorbei. Das war’s. Wenig weihnachtlich. Ich fühle mich alleine gelassen.
Die Weihnachtsfeste danach sind nicht wirklich besser. An einem Weihnachtsmorgen ist es so schlimm, da ist der Groll so groß, dass ich jede einzelne Kugel von meinem Weihnachtsbaum herunterreiße und klirrend in den Mülleimer donnere. Den Weihnachtsabend verbringe ich an dem Tag alleine im Bett, aus Trotz und Selbstbestrafung. Am selben Abend bekomme ich schlimme Panikattacken. Und es macht mich sauer, dass es niemanden kümmert, dass das niemand sieht, dass selbst die Menschen, die es wissen nicht da sind. Aber wer will auch schon so Weihnachten verbringen. Ich will es auch keinem vermiesen.
Heute weiß ich noch immer nicht was ich davon halten soll. Letztendlich zeigt das doch wie alleine man wirklich ist, dass in den schlechtesten Momenten niemand da ist, auch nicht, wenn man sich mitteilt. Also wieso sollte man das zukünftig noch tun?
Ich glaube mit der Zeit werde ich irgendwie gehässig.
Dann ist da dieser Abend. Ich trinke normalerweise nur, wenn ich ausgehe. Aber mir geht es schlecht. Ich fühle mich so alleine. Also hole ich die Flasche Wein aus dem Schrank.
Ich trinke ein Glas und dann noch eins, eins nach dem anderen. Ich bin so alleine. Das macht mich so wütend, ich bin so wütend. Die Flasche Wein ist leer und ich bin noch immer so sauer. Ich trinke an dem Abend noch das ein oder anderen Glas Alkohol. Ich muss an meine Schwester denken und dieses beschissene Leben macht mich so so wütend. Ich schreie es raus und schmeiße die leere Flasche gegen die Wand. Es bleibt eine fiese Delle zurück, das macht mich noch wütender. Ich gehe in die Knie und würde mir am liebsten die Haare ausraufen. Ich halte diese Scheiße nicht mehr aus. Ich heule vor Wut.
Ich kann nicht genau sagen wieso, aber plötzlich stehe ich auf und gehe die Treppe hinunter. Ich laufe in die Küche und mache die Besteckschublade auf. Ich beiße die Zähne zusammen. Dann hole ich entschlossen ein Messer raus.
Ich laufe wütend die Stufen wieder hoch und setze mich auf mein Bett. Ich zieh den Ärmel meines Oberteils hoch. Ich beiße wieder die Zähne zusammen und versuche meine Unsicherheit zu unterdrücken. Ich schaffe es nicht, das befeuert meine Wut nur noch mehr. Ich lege das Messer weg und lass mich aufs Bett fallen. Ich heule lauthals. Fuck. Was mach ich eigentlich?! Ich empfinde so viel Wut und so viel Verzweiflung. Und niemand bemerkt es, es kümmert überhaupt niemanden - ich bin es so leid. Ich denke an all die Menschen, an die Dinge, die ich verloren habe und ich denke daran wie falsch ich bin. So falsch. Ich kann überhaupt nichts. All meine Gefühle sind so falsch. Der Zorn in mir flammt wieder auf. Eine Entschlossenheit rührt sich in mir. Ich nehme ruckartig das Messer in die Hand und ritze mir in den Arm. Immer und immer wieder. Es tut scheiße weh. Aber es tut nicht so weh, wie das was ich sonst so fühle.
Am nächsten Tag empfinde ich die pure Scham.
Irgendwann wird aus der ganzen Wut nur noch Stille. Ich bin leer.
Mit der Zeit fühle ich mich wertlos und unwichtig.
Es fühlt sich mutlos an, endlos und trostlos.
Monate vergehen.
An einem gewöhnlichen Sommerabend sitze ich in meinem Auto auf einem kleinen Parkplatz bei uns im Ort. Es dämmert schon. Ich fühle mich leer. Ich fühle mich wertlos.
Seit Monaten trage ich diese Sinnlosigkeit mit mir. Seit Monaten bin ich ein Geist. Und es fühlt sich so an, als würde es sich niemals wieder anders anfühlen. Mir kommt ein Gedanke.
Vielleicht, vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht mehr da wäre.
Ich könnte jetzt einfach auf diese Brücke fahren. Ich könnte endlich aufhören so zu fühlen.
Ich heule, weil mir klar wird was ich da eigentlich gerade denke. Es schockiert mich - so weit ist es also schon. Und das schlimmste ist, dass sich dieser furchtbare Gedanke nach der einzigen Lösung anfühlt. Aber ich bin zu feige. Ich weiß, dass ich es stattdessen aushalten muss. Ich bin zu feige dafür. Ich schaue in den Spiegel und es ist Hass was ich fühle, weil ich zu feige bin. Denn eigentlich lebe ich gerne. Ich will nicht sterben, aber ich will auch diese Leere, diese Mutlosigkeit nicht mehr fühlen.
In meinem ganzen Leben habe ich mich noch niemals so einsam gefühlt wie in diesem Moment. Ich denke damals noch oft an diese Brücke. Ich denke noch oft daran, was vielleicht die beste Option wäre. Dann würden mich plötzlich wieder alle sehen, dann würden sie wieder alles, was ich bin und war, wahrnehmen. All die vermeintlich banalen Dinge würden sie plötzlich wieder als etwas Besonderes empfinden. Sie würden all die Dinge, die mich als Mensch ausmachen wieder sehen, nur ich selbst.. ich wäre weg. Ist das der Preis?
Immerhin wäre ich dann weniger ein Geist, als ich es damals zu dem Zeitpunkt sowieso schon gewesen bin.
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Wenn ich diesen Text heute lese, dann empfinde ich noch immer Scham und mache mir Gedanken darüber, was du jetzt wohl von mir hältst - aber eigentlich ist das egal. Und ich empfinde auch Scham, weil ich so hart zu mir selbst war. Aber diese Gefühle waren damals eben da, ich habe sie gefühlt.
Es war mehr als unangenehm für mich den Text zu verfassen, noch mehr ihn zu veröffentlichen. Doch mittlerweile ist so viel Zeit vergangen, dass ich genug Mut hatte es doch zu tun. Meistens ist es trotzdem so, dass ich die Beiträge gerne direkt wieder löschen würde, ich kann sie auch nicht nochmal durchlesen. Sie sind eben die Realität und ich denke dafür sollte man sich nicht schämen müssen. Es ist einfach menschlich. Es spricht nur kein Mensch drüber oder nur die wenigsten. Das ist genau der Punkt. Man fühlt sich alleine und grundfalsch, wenn man nicht weiß, dass es sogar sehr vielen Menschen so geht oder ergangen ist. Trotzdem bleibt natürlich auch immer die Angst, dass die Menschen mich dann nur noch so sehen, wie mich der Text in dieser Phase beschreibt. Dieser Teil meiner Vergangenheit.
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